Von L. Randall Wray
Im letzten Blog mussten wir uns unter Schwerstarbeit zunächst einmal ein Fundament erarbeiten. Wenn Sie nicht gerade ein Buchhaltungs-Nerd sind, fanden Sie es vermutlich ziemlich trocken. Diese Woche werden wir eine kleine Pause von den theoretischen Grundlagen der Buchhaltung einlegen und das bereits Gelernte an einem echten Fallbeispiel anwenden: die Entstehung der globalen Finanzkrise von 2008/2009. Langjährige Leser von New Economic Perspectives sind mit unserem Erklärungsansatz bereits vertraut. Um den Ursprung der globalen Finanzkrise zu untersuchen, müssen wir zu der Zeit der sogenannten "Goldlöckchen-Ökonomie" unter Präsident Clinton zurückgehen und diese mithilfe der Methode sektoraler Salden untersuchen.[1]
Genauer gesagt nutzen wir zur Interpretation der Ereignisse im Folgenden die im letzten Blog herausgearbeitete Identitätsgleichung sektoraler Salden und kombinieren diese mit empirischen Daten. Dabei gilt: Über die Korrektheit der Interpretationen kann man streiten. Über die dahinterstehende Identität und die Daten jedoch nicht. (Sie können die Analyse natürlich immer mit anderen Identitäten und anderen Daten beginnen). Nächste Woche kehren wir wieder zu etwas mehr Buchhaltung zurück.
Im Jahr 2002 schrieb ich einen Artikel, in dem ich ankündigte, dass die wirtschaftliche Entwicklung so verläuft, dass sie den perfekten fiskalischen Orkan erzeugen würden. Was ich damit meinte, war eine Haushaltskrise auf der Ebene des Bundesstaates und der Kommunalverwaltungen. Ich hatte erkannt, dass die damalige wirtschaftliche Entwicklung einer Blase zu verdanken war, die von einem meiner Meinung nach nicht nachhaltigen Defizit des privaten Sektors angetrieben wurde. Dieser hatte seit 1996 stets mehr Ausgaben als Einnahmen verzeichnet. Wie wir heute wissen, beschwor ich den Zusammenbruch etwas zu früh - der Privatsektor gab bis 2006 weiterhin mehr aus als er einnahm. Darauf stürzte die wirtschaftliche Entwicklung jedoch massiv ab - das Resultat der Exzesse. Was ich vor einem Jahrzehnt nicht verstanden hatte, war, wie verdorben die Wall Street geworden war. Sie hielt die Schuldenblase durch alle Arten von Betrug der Kreditgeber am Laufen. Wir leben nun mit den Nachwirkungen.
Dennoch lohnt es sich, auf die so genannte "Goldlöckchen"-Periode von Mitte bis Ende der 1990er Jahre zurückzukommen (die als "genau richtig" bezeichnet wurde, mit einem Wachstum das ausreichend stark war, um die Arbeitslosigkeit niedrig zu halten, aber nicht zu stark, um Inflation zu verursachen), um zu sehen, warum Ökonomen und politische Entscheidungsträger sie immer noch nicht verstanden haben. Wie ich bereits in meinem früheren Artikel festgestellt habe,
Es ist eine Ironie des Schicksals, dass am 29. Juni 1999 im Wall Street Journal zwei lange Artikel erschienen, von denen der eine damit prahlte, dass die Überschüsse des Staates die Staatsverschuldung ausradieren und zur nationalen Ersparnis beitragen würden, während sich gleichzeitig der andere darüber den Kopf zerbrach, warum die private Ersparnis negativ geworden war. Die Überschrift einer Abbildung, welche die private Ersparnis und die staatlichen Defizite/Überschüsse zeigt, lautete: "Wenn die Regierung spart, geben die Menschen mehr Geld aus." (Die Titelseite des Wall Street Journal ist unten wiedergegeben.) Fast niemand erkannte damals (oder seitdem!) den logischen und zwingenden Zusammenhang zwischen diesen beiden Variablen, der sich unweigerlich aus den gesamtwirtschaftlichen Salden ergibt.
Seit der wirtschaftlichen Abkühlung, die Ende 2000 begann, hat sich die Regierungsbilanz in Richtung eines Defizits umgekehrt, das im letzten Quartal 3,5% des BIP erreichte, während sich der finanzielle Saldo des privaten Sektors auf ein Defizit von lediglich 1% des BIP verbesserte. Solange sich das Leistungsbilanzdefizit [Anm. der Red.: das Defizit gegenüber dem Rest der Welt] in einer Größenordnung von vier bis fünf Prozent des BIP bewegt, kann ein Überschuss des privaten Sektors nicht gelingen. Dies geht erst, wenn das Defizit des Bundeshaushalts über 5% des BIP steigt (wie wir gleich sehen werden, haben die einzelnen US-Bundesstaaten und Kommunen weiterhin im Aggregat Überschüsse erzielt und damit die Größe des notwendigen Defizits auf nationaler Ebene erhöht). In einer Rezession erwirtschaftet der private Sektor normalerweise einen Überschuss von mindestens 3% des BIP; angesichts unseres Außenhandelsdefizits bedeutet dies, dass das Haushaltsdefizit des Bundes auf 7% oder mehr ansteigt, wenn eine tiefe Rezession bevorsteht. Zu diesem Zeitpunkt wird das Wall Street Journal zweifellos protestieren: "Wenn das Volk spart, gibt die Regierung Geld aus" und eine straffere Finanzpolitik fordern, um die nationale Ersparnis zu erhöhen!
Was den internationalen Kontext betrifft, so ist zu beachten, dass das US-Goldlöckchen-Wachstum in seiner Art nicht einzigartig war. In den meisten OECD-Ländern haben sich die Bilanzen des öffentlichen Sektors in den letzten zehn Jahren erheblich verschlankt - zumindest teilweise aufgrund von Versuchen, die Haushalte im Einklang mit dem Washingtoner Konsens (und für die Länder des Euros im Einklang mit den Maastricht-Kriterien) zu kürzen. (Japan sticht natürlich als eklatante Ausnahme hervor - es erzielte Ende der 1980er Jahre hohe Haushaltsüberschüsse, bevor es in eine lang anhaltende Rezession einbrach, die die Staatseinnahmen vernichtete und zu einem Staatsdefizit von fast 9% des BIP führte). Die Verknappung öffentlicher Mittel führte zu einer Verschlechterung der Salden des privaten Sektors. Mit Ausnahme der Länder, die Handelsbilanzüberschüsse erzielen konnten, implizierten die weltweit restriktiveren finanzpolitischen Positionen notwendigerweise fragilere Bilanzen des privaten Sektors. In der Tat verzeichneten Kanada, das Vereinigte Königreich und Australien alle irgendwann zu Beginn des neuen Jahrtausends Defizite im Privatsektor.
(Quelle: L. Randall Wray, "The Perfect Fiscal Storm" 2002, verfügbar unter http://www.epicoalition.org/docs/perfect_fiscal_storm.htm)
Schauen wir uns die "Goldlöckchen-Zeit" noch einmal an. Welche Lehren können wir bezüglich des globalen Finanzkollaps, der 2007 begann, ziehen? Wie wir jetzt wissen, waren meine kurzfristigen Projektionen, die den Niedergang der "Goldlöckchen-Zeit" in eine Rezession vorhersagten, nicht allzu schlecht, aber die mittelfristigen Projektionen waren daneben. Das Haushaltsdefizit unter Präsident Bush wuchs auf 5 % des BIP an und half der Wirtschaft, sich zu erholen. Doch dann geriet der private Sektor sofort wieder in riesige Defizite, da mittels großflächigen Kreditbetrugs sowohl ein Immobilienboom als auch ein Boom des privaten Konsums (finanziert durch Eigenheimdarlehen) befeuert wurde.
Dies geht aus der untenstehenden Grafik hervor (Dank an Scott Fullwiler). Beachten Sie, dass wir jeden sektoralen Saldo durch das BIP geteilt haben (da wir jeden Saldo durch die gleiche Zahl - das BIP - teilen, ändert das nichts an den Beziehungen; die Salden werden lediglich "skaliert"). Dies ist eine bequeme Skalierung, die wir in der MMT häufig verwenden. Da die meisten makroökonomischen Daten dazu tendieren, im Laufe der Zeit zu wachsen, macht die Division durch das BIP die Darstellung übersichtlicher (statt mit Billionen von Dollars - also sehr vielen Nullen - zu arbeiten, drücken wir alles in Prozent des gesamtwirtschaftlichen Einkommens aus).
Sektorale Finanzierungssalden der USA in % des BIP
Quelle: Ameco; für die deutschen Finanzierungssalden siehe Was-ist-Geld.de.
Diese Abbildung zeigt den spiegelbildlichen Zusammenhang: Das öffentliche Defizit von 1980 bis zu den Goldlöckchen-Jahren ist das Spiegelbild vom Überschuss des inländischen Privatsektors zuzüglich unseres Leistungsbilanzdefizits [Anm. der Red.: der Saldo des Auslands] (als positive Zahl dargestellt, weil der Rest der Welt uns gegenüber einen positiven finanziellen Saldo hat, wenn die Leistungsbilanz negativ ist).[2] (Anmerkung: Die Grafik bestätigt, was wir in Beitrag 2 gelernt haben: die Summe der Defizite und Überschüsse in den drei Sektoren muss gleich Null sein). Während der Clinton-Jahre, als der Staatshaushalt einen Überschuss erzielte, war es das Defizit des privaten Sektors, welches das Spiegelbild zum Haushaltsüberschusses plus Leistungsbilanzdefizit darstellte.
Dieses spiegelbildliche Verhältnis ist das, was das Wall Street Journal nicht erkannt hatte - und was fast niemand versteht, außer denjenigen, die einem modernen Geld-Ansatz folgen sowie die Forscher des Levy Economic Institute, die den sektoralen Bilanzansatz von Wynne Godley verwenden. Nach dem finanziellen Zusammenbruch erwirtschaftete der inländische Privatsektor einen großen Überschuss (was er eben üblicherweise in einer Rezession tut), das Leistungsbilanzdefizit ging zurück (da die Verbraucher weniger Importe kauften) und das Haushaltsdefizit wuchs. Dies lag hauptsächlich daran, dass die Steuereinnahmen zusammenbrachen, weil die heimischen Umsätze und die Beschäftigung zurückgingen.
Unglücklicherweise haben die politischen Entscheidungsträger aus den Haushaltsüberschüssen der Clinton-Regierung die falschen Lehren gezogen, indem sie dachten, die nationalen Haushaltsüberschüsse des Bundes seien super, während sie in Wirklichkeit nur die Kehrseite der Verschuldung des privaten Sektors waren - und jetzt lernen sie die falschen Lehren aus dem globalen Crash nach 2007. Sie haben es geschafft, sich selbst davon zu überzeugen, dass das alles auf die Verschwendung des Staatssektors zurückzuführen ist. Dies wiederum hat zu Forderungen nach Ausgabenkürzungen (und seltener auch nach Steuererhöhungen) geführt, um die Haushaltsdefizite in vielen Ländern der Welt (insbesondere in den USA und Großbritannien) zu reduzieren.
Die Realität sieht anders aus: Die Exzesse der Wall Street führten zu einer zu hohen Verschuldung des privaten Sektors, welche die Wirtschaft zum Absturz brachte und die Steuereinnahmen der Regierung verringerte. Dies führte zu einem enormen Anstieg der Haushaltsdefizite der Bundesregierung. Der Abschwung reduzierte auch die Einnahmen der US-Bundesstaaten und Kommunen. Diese reagierten daher mit Ausgabenkürzungen, Entlassungen und der Suche nach Einnahmen. Als souveräner Währungsemittent ist die Bundesregierung aber keinen Solvenzzwängen ausgesetzt (die Leser werden diese Behauptung vorerst für bare Münze nehmen müssen - denn dies ist Stoff für kommende Beiträge).
Dieser fiskalische Orkan [Anm. der Red.: der wirtschaftliche Einbruch], der die staatlichen Einnahmen wegblies, ist derselbe fiskalische Orkan, welcher die in der obigen Grafik dargestellten Haushaltsdefizite des Bundes verursachte. Eine Volkswirtschaft kann nicht etwa 8% des BIP (aufgrund von Ausgabenkürzungen durch Haushalte, Unternehmen und lokale und staatliche Regierungen) und über 8 Millionen Arbeitsplätze verlieren, ohne dass sich dies negativ auf die Staatshaushalte auswirkt. Die Steuereinnahmen sind in einem historischen Tempo zusammengebrochen. Die Defizite der nationalen Bundesregierung, der US-Bundesstaaten und der Kommunen werden erst dann zurückgehen, wenn eine robuste Erholung eintritt und den fiskalischen Orkan beendet.
Eine robuste Erholung wird das Haushaltsdefizit des gesamten Staatssektors reduzieren, da der private Sektor seinen Haushaltsüberschuss verringert. Es ist wahrscheinlich, dass unser Leistungsbilanzdefizit ein wenig wachsen wird, wenn wir uns erholen. Wer raten möchte, wie unser "Spiegelbild" in der obigen Grafik nach der wirtschaftlichen Erholung aussehen wird; ich gehe davon aus, dass wir in die Nähe unseres langfristigen Durchschnitts zurückkehren werden: ein Überschuss des privaten Sektors von 2% des BIP, ein Leistungsbilanzdefizit von 3% des BIP und ein öffentliches Defizit von 5% des BIP. In unserer einfachen Gleichung wird es dann wie folgt aussehen:
Privater Saldo (+2) + staatlicher Saldo (-5) + ausländischer Saldo (+3) = 0.
Und schon sind wir wieder beim Prinzip der Nullsumme!
[1] Anm. der Red.: Die Goldlöckchen-Metapher bezieht sich auf eine US-Kinderserie und wird von Marktbeobachtern im Finanzbereich gerne benutzt, um einen Markt zu beschreiben, der einfach perfekt aussieht, vgl. https://boerse.ard.de/boersenwissen/boersenwissen-fuer-fortgeschrittene/goldloeckchen-an-der-boerse100.html. [2] Anm. der Red.: Die Leistungsbilanz fasst alle Transaktionen einer Volkswirtschaft mit dem Ausland zusammen. Dies sind im Wesentlichen Im- und Exporte, aber auch Arbeits- und Vermögenseinkommen, die länderübergreifend erzielt werden, sowie regelmäßige Vermögensübertragungen (im Euro-Raum fallen hierunter z.B. Zahlungen an den EU-Haushalt).
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